Didaktik

1. Zur Relevanz des Verbs in der Spache
2. Gebrauchstexte
3. Didaktische Hinweise zur Textarbeit in der Therapie

 

1. Zur Relevanz des Verbs in der Sprache
(leicht erweitert aus: "Verb Satz Handlung")

Leerstellen und Satzmuster

Das Verb nimmt im Satz eine zentrale Rolle ein. Verben eröffnen Leerstellen im Satz, die durch bestimmte Satzglieder besetzt werden, z. B.

           Paul schenkt seiner Nachbarin eine rote Rose.

Das Verb schenken eröffnet drei Leerstellen, die wie folgt besetzt werden:

a   derjenige, der etwas schenkt (Frage Wer?):   Paul
b   die Beschenkte (Frage Wem? ):                     seiner Nachbarin
c   das, was jemand schenkt (Frage Was?):        eine rote Rose

Diesen drei semantischen Rollen entsprechen drei syntaktische Funktionen im Satz:

a   Subjekt (im Nominativ)
b   Dativobjekt
c   Akkusativobjekt

Das Verb bestimmt somit die Grundstruktur eines Satzes, vgl. auch die folgenden Verben (AKK – Akkusativ, PRÄP – Präpositional):

     – schlafen    SUBJEKT – VERB                                 Das Kind schläft.
    
kaufen       SUBJEKT – VERB – AKKOBJEKT        Alexander kaufte ein Buch.
    
warten       SUBJEKT – VERB – PRÄPOBJEKT     Laura wartet auf den Zug.

Die vom Verb bestimmte Grundstruktur des Satzes kann frei durch weitere Satzglieder ergänzt werden, die die Handlung nach Ort, Zeit, Grund, Bedingung usw. situieren, z. B.

     – Das Kind schläft auf dem Sofa.
    
– Alexander kaufte das Buch wegen des interessanten Titels.
     – Laura wartet hier schon seit drei Stunden auf den Zug.

 

Zur Ordnung der Satzglieder

Dem Verb kommt im Satz eine weitere zentrale Rolle zu. Es definiert im Satz feste Positionen und gibt dadurch eine Ordnung für die Stellung der Satzglieder im Satz vor. Im Hauptsatz steht das konjugierte (finite) Verb an zweiter Position; wenn der Verbkomplex aus zwei (oder mehr) Teilen besteht, so steht der zweite, nicht konjugierte Teil (infinit: Infinitiv oder Partizip Perfekt) an Position 4.

     1                                   2 (finit)        3                                                       4 (infinit)          5
     Heute                           schenkt       Martin seiner Freundin Blumen               –                             -
     Martin                           hat               seiner Freundin gestern Blumen     geschenkt        weil sie Geburtstag hatte
     Martin                           will               seiner Freundin morgen Blumen    schenken                       -
     Gestern                        konnte        ich leider nicht                                  kommen
     Wegen des Regens     habe            ich dich gestern leider nicht             besucht
    
Weil es regnete,           habe            ich dich gestern leider nicht             besucht
    
Ich
                                 habe              dich gesstern leider nicht                   besucht,              obwohl ich es vorhatte

Das Verb bzw. die Verbteile stellen im Satz eine „Säule“ dar (sog. „Verbklammer“), um die herum sich die anderen Satzglieder nach bestimmten Regeln anordnen (z. B. Subjekt: an Position 1 oder zu Beginn von Position 3). Egänzungs- und Adverbialsätze stehen meist an Position 1  oder an Position 5. An den Positionen 1 und 5 kann im Deutschen jeweils nur 1 Satzglied stehen; alle anderen Satzglieder stehen an Position 3, die durch die Verbklammer zusammengehalten wird.

Das Fehlen des Verbs bei bestimmten Aphasien bedingt zunächst, dass die vom Verb bezeichnete Handlung nicht ausgedrückt werden kann. Darüber hinaus hat es zur Folge, dass oft Satzglieder ausgelassen werden und wegen der fehlenden Verbteile („Säulen“ des Satzes) das grundlegende Organisationsprinzip für die Strukturierung des Satzes nicht vorhanden ist. Schließlich fehlt mit dem Verb die Basis für die morphologischen Markierungen bei den nominalen Satzgliedern (Kasusmarkierungen bei Subjekt und den Objekten).

 

Die zentrale Rolle des Verbs für die Kommunikation

Die Sprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen: Wir verwenden die Sprache um zu kommunizieren. Ist die Sprache gestört, so kann ein Mensch nicht mehr adäquat kommunizieren und seinen Alltag bewältigen. Die Aphasietherapie muss folglich die kommunikativen Fähigkeiten der Betrofffenen im Rahmen des Möglichen verbessern. Das ergibt sich aus dem Wesen der Sprache als Kommunikationsmittel und wird darum auch von übergeordneten Zielfomulierungen wie der ICF betont.
Welche Rolle spielt in der sprachlichen Kommunikation nun das Verb? Menschen handeln in ihrer Lebenswelt. In vielen Situationen ist das Handeln in einer Gemeinschaft eng verknüpft mit sprachlicher Kommunikation; eine Familie will z. B. zusammen kochen und muss vorher das Gericht planen, die Arbeiten verteilen usw. Mit Hilfe der Sprache wird das gemeinsame Handeln organisiert und durchgeführt. Dazu bedarf es insbesondere der Verben, denn sie bezeichnen Handlungen. Z. B. entsteht die Beziehung zwischen einer Person (die Frau) und einem Gegenstand (Salat) erst durch eine verbal ausgedrückte Handlung: waschen, kaufen, essen, schneiden usw. D. h. vor allem mit Hilfe von Verben können wir ausdrücken, was Personen tun oder was mit den Dingen passiert. Aus diesem Grund sind Verben für die sprachliche Kommunikation elementar und sollten im Zentrum des therapeutischen Übens stehen.

 

Zur mentalen Einbindung von Verben

Beim Umgang mit Verben ist nicht nur die grammatische Seite wichtig, sondern auch das Bedeutungsnetz, in das die Verben eingebunden sind. Das Verb steht für eine Handlung, die von bestimmten Handlungsbeteiligten ausgeführt wird und sich auf bestimmte Ziele richtet (vgl. oben das Beispiel schenken). Besonders wichtig sind hierbei typische, oft auftretende Verbindungen zwischen Handlungen und Personen/Objekten, die mental assoziativ eng verbunden abgespeichert sind (Kollokationen), z. B. lesen – Buch, backen – Bäcker – Brot oder fahren – Auto – Straße.
Derartige enge Assoziationen zwischen Konzepten sind sehr wichtig, da sie die Grundlage der Bedeutungsstruktur von Sätzen darstellen und bei der Sprachproduktion direkt in Sprache überführt werden, z. B.

     – Der Bäcker bäckt Brot.
    
Das Auto fährt auf der Straße.

Werden derartige Assoziationen in der Sprachtherapie wieder aktiviert, so aktiviert und festigt das auch die mentalen Verbindungen zwischen den entsprechenden Wortformen und erleichtert den Zugriff darauf.

 

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2. Gebrauchstexte
(aus: "Texte im Alltag")

Texte* begegnen uns im Alltag auf Schritt und Tritt. Ein wichtiger Bereich der Alltagskompetenz, über die ein Sprachteilhaber verfügt, besteht in der Fähigkeit, Texte zu verstehen und daraus – falls erforderlich – die notwendigen Schlussfolgerungen für sein Handeln zu ziehen. Der adäquate Umgang mit Texten im Alltag ist somit ein wichtiges Ziel einer teilhabeorientierten Aphasietherapie.

*  Im linguistisch-fachsprachlichen Sinn ist ein Text ein abgeschlossenes sprachlich-kommunikatives Ereignis, das eine bestimmte Funktion hat. Anders als in der Umgangssprache umfasst der linguistische Textbegriff ebenso Texte im Medium der gesprochenen Sprache.

Ein Beispiel:
Ehepaar Ludwig will ein paar Tage verreisen. Während er in einem Reisekatalog ein Hotel sucht, bucht sie auf der Internetseite der Bahn einen Zug; sie druckt dann die Fahrkarten und die Reiseinformationen aus. Er hat inzwischen mit einem Hotel ein Telefonat geführt und ein Zimmer gebucht; nach 10 Minuten faxt das Hotel die Buchungsbestätigung durch ... Reisebeginn: Auf dem Bahnhof schaut er auf dem Fahrplan nach, auf welchem Bahnsteig der Zug abfährt. Auf dem Bahnsteig sehen sie auf der Anzeige, dass der Zug 15 Minuten Verspätung hat. Zum Glück achten sie auf die Lautsprecherdurchsage und erfahren so, dass der verspätete Zug auf einem anderen Bahnsteig abfährt. Sie begeben sich dorthin.

Die meisten Texte, die uns im Alltag begegnen, sind sog. Gebrauchstexte, d. h. Texte, die alltagsrelevante Informationen enthalten. Während ein Witz, ein Roman oder eine Fußballtabelle das Alltagshandeln nur selten direkt beeinflussen dürften, benötigt man Praxisschilder, Fahrpläne, Werbeprospekte, Wetternachrichten im Fernsehen oder Fernsehprogramme, weil man an den Informationen, die man ihnen entnimmt, sein Alltagshandeln ausrichtet.
 

Wie gehen wir mit Texten im Alltag um?

Herr Müller ist auf dem Bahnhof und will wissen, auf welchem Gleis sein Zug abfährt. Er sucht auf dem Fahrplan die Abfahrtzeit seines Zuges und findet dort das Gleis. Direkt danach begibt er sich zu dem entsprechenden Bahnsteig. Das Beispiel zeigt, wie Texten im Alltag oft Informationen entnommen werden:

  • Der Leser nähert sich einem Text mit einer bestimmten Verstehensabsicht.
  • Entsprechend der Verstehensabsicht setzt er einen bestimmten Lesestil ein – hier: Er sucht in dem Text gezielt nach einer bestimmten Information und entnimmt diese, ohne auf andere Informationen des Textes zu achten.
  • Damit das so problemlos gelingt, benötigt er ein Wissen über den formalen Aufbau, die Art der zu erwartenden Informationen, über die Funktion des Textes sowie über Situationen, in denen er einen bestimmten Text erwarten kann. Ohne dieses Textsortenwissen würde es ihm nicht gelingen, sich in dem Text (hier: Fahrplan) so problemlos zurechtzufinden und sein Verstehensziel so schnell zu erreichen.
  • Schließlich setzt Herr Müller die entnommene Information in Handeln um und begibt sich auf den entsprechenden Bahnsteig.

Damit sind bereits die zentralen Elemente und Aspekte des Verstehensprozesses genannt:

  • Wir verfügen über ein Textsortenwissen, das es uns ermöglicht, uns einem Text adäquat zu nähern. Wir kennen die wichtigsten formalen, inhaltlichen und funktionalen Merkmale der meisten Texte, die uns im Alltag begegnen, und können deshalb meist sehr schnell erkennen, um was für einen Text es sich handelt.
  • Oft bestimmt die Textsorte die Art und Weise, wie wir einem Text Informationen entnehmen. Einen Fahrplan lesen wir in der Regel sehr selektiv; wenn wir ein neues Rezept ausprobieren, lesen wir hingegen sehr detailliert; den politischen Texten in der Zeitung wollen wir in der Regel global die Hauptinformationen entnehmen, also Wer? Wo? Wann? Warum? ...
  • Die Art der Informationsentnahme hängt aber ebenfalls von der Verstehensabsicht ab: Wenn wir ein Rezept lesen, um einen Einkaufszettel zu schreiben, entnehmen wir andere Informationen als später, wenn wir das Gericht kochen. Und wenn jemand einen Fahrplan Korrektur liest, so setzt er eine andere Lesestrategie ein als Herr Müller in dem Beispiel oben.
  • Ein Text ist „verstanden“, d. h. der Prozess der Informationsentnahme wird beendet, wenn das Verstehensziel erreicht ist. So gesehen, ist Verstehen durchaus etwas Subjektives.
  • Dem Erreichen des Verstehensziels folgt in vielen Fällen eine weitere Aktivität: die Durchführung einer Handlung – hier: Herr Müller begibt sich auf den Bahnsteig. Als Konsequenz kann man auch eine Handlung unterlassen – dann z. B., wenn die Preise in einem Prospekt zu hoch sind und man deshalb ein gewünschtes Produkt nicht kauft.

 

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3. Didaktische Hinweise zur Textarbeit in der Therapie

Textverstehen und lautes Lesen

Lassen Sie einen Text immer leise lesen, denn lautes Lesen behindert das Textverstehen! Das stille Lesen entspricht der natürlichen Lesehaltung, entlastet das Arbeitsgedächtnis und ermöglicht es, sich ganz auf den Textinhalt zu konzentrieren. Beim lauten Lesen erfordert die Transkodierung vom grafischen ins phonische Medium sowie die Planung und Ausführung der Artikulation sehr viel Aufmerksamkeit und Konzentration, vor allem bei sprach- und sprechgestörten Menschen. Es besteht dann kaum noch die Möglichkeit, sich auf den Inhalt des Textes zu konzentrieren.

Lautes Lesen ist eine Übungsaktivität, die vor allem dazu dient, Defizite beim Sprechen (Artikulation, Prosodie, Atemrhythmus usw.) zu trainieren. Ein Text, der laut gelesen wird, sollte bekannt sein (z. B. zuvor erarbeitet oder zumindest still gelesen).

 

Vorwissen zum Textinhalt

Aktivieren Sie vor dem ersten Lesen das Vorwissen des Patienten zum Textinhalt. Oft weiß man schon ziemlich gut, was in einem Text stehen kann. Wenn dieses Vorwissen aktiviert ist, kann das das Textverstehen erleichtern.

Texte haben meist eine Überschrift, oft auch einen Untertitel und Zwischenüberschriften; sie werden von Bildern illustriert, die selbst oft durch ein oder zwei Sätze erläutert werden. All das kann man einsetzen, um das Vorwissen zum Text zu aktivieren. Oder man führt vor dem ersten (stillen) Lesen mit dem Patienten ein Gespräch über das Thema des Textes.

 

Verschiedene Ebenen des Textverstehens

Nicht jeder Text muss Wort für Wort bis ins Detail gelesen und verstanden werden. Einen politischen Zeitungstext z. B. liest man anders als ein Rezept: Einem Zeitungstext möchte man die wichtigsten Informationen entnehmen, während man ein Rezept schon sehr genau lesen und verstehen muss; einem Fahrplan entnimmt man sehr selektiv eine bestimmte Information, während viele den Wirtschaftsteil der Zeitung nur überfliegen.

Entsprechend sollte man auch in der Therapie verschiedene Arten des Textverstehens trainieren. Welche Art der Informationsentnahme jeweils die angemessene ist, hängt zum einen von der Textsorte ab (vgl. oben), zum anderen von dem Verstehensziel des Lesers, also von seinem Interesse an dem jeweiligen Text.

Beim Training des Textverstehens sollte man mit der allgemeineren Ebene beginnen und sich in verschiedenen Verstehensdurchgängen zu spezielleren Ebenen hin bewegen - etwa in der Reihenfolge 1 - 2 - 3:

1 Was ist das Wichtigste / die wichtigste Aussage im Text? (z. B. in Form eines Satzes oder einer Überschrift)

2 Textgliederung: Aus welchen Teilen besteht der Text? (z. B. den Abschnitten Überschriften zuordnen lassen)

3 Was sind die wichtigsten Informationen des Textes? (z. B. Wer? Wo? Wann? Was? Warum? Wozu? ...)

 

Berücksichtigung des Leserinteresses, z. B. (nach der Aktivierung des Vorwissens):

- Was interessiert Sie an dem Thema des Textes? ... Dann schauen Sie einmal, ob Sie etwas dazu in dem Text finden.

- Was meinen Sie: Was könnte in dem Text stehen? ... Jetzt sehen Sie doch einmal nach, ob Ihre Vermutung zutrifft.

Wenn der Leser die für ihn interessanten Informationen entnommen hat, kann die Verstehensphase enden. Patienten müssen Folgendes erkennen: Um einen Text zu verstehen, ist es meist nicht erforderlich, Wort für Wort zu lesen und jedes Detail zu erarbeiten.

 

Textverstehen und sprachliche Arbeit am Text

In der Phase des Textverstehens geht es um Inhaltliches und nicht um Grammatik oder Wortschatzarbeit. Je detaillierter man einen Text beim ersten Lesen Wort für Wort bespricht, desto weniger versteht man vom Textinhalt, weil nämlich das Arbeitsgedächtnis überfordert ist. Diese Erfahrung haben viele z. B. im Fremdsprachenunterricht gemacht.

Am besten trennt man die Phasen "Textverstehen" und "sprachliche Arbeit am Text", also Wortschatz heraussuchen, Wortfelder erarbeiten, Strukturen erkennen, grammatische Signalwörter markieren usw. Grundsätzlich gilt: Zuerst das Verstehen, danach die sprachliche Arbeit am Text.